Adalbertstraße / Ecke Leuschnerdamm, Berlin-Kreuzberg, 9. April 1988


Aus der Adalbertstraße wird 'ne Wiese

Anfang der 1980er Jahre gab es in West-Berlin nicht nur weit über hundert besetzte Häuser, die zuvor leer gestanden und bis dahin auf ihren Abriss oder die Luxussanierung gewartet hatten. Beherzte Aktivisten hatten im März 1981 auch ein seit dem zweiten Weltkrieg brachliegendes Grundstück am Leuschnerdamm, Ecke Adalbertstraße okkupiert. Auf dem verwilderten Gelände, das bis dahin nur als wilde Müllkippe und Autoschraubeplatz gedient hatte, schufen sie den Kinderbauernhof am Mauerplatz. Kein Streichelzoo sollte es sein, sondern ein Ort, an dem die Natur und der Umgang und die Pflege von Haustieren für Großstadtkinder erfahrbar sein sollten.

21. März 1986: Der Kinderbauernhof am Mauerplatz feiert sein fünfjähriges Bestehen.

Als man im Frühjahr 1986 das fünfjährige Bestehen feierte, hatten sich aber schon dunkle Wolken über dem inzwischen legalisierten Projekt zusammengezogen: Nach dem einstimmigen Willen der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung (BVV) – also auch getragen von der Alternativen Liste (AL), wie die Grünen in Berlin damals noch hießen – sollten das Projekt ein Drittel seines Geländes abtreten. Geplant war, dort eine Kindertagesstätte mit 70 Plätzen zu errichten. Alternativen gab es nach Ansicht der Bezirkspolitiker keine. Die Kinderbauern hingegen fürchteten um ihre Überlebensfähigkeit.


Dann brachten einige Verwegene einen kühnen Vorschlag: Man solle doch die geplante Kita um ein Stück vom Kinderbauernhofgelände auf die Adalbertstraße verschieben. Die stieß dort stumpf auf die Mauer. Erst jenseits der Grenzanlagen an der Fritz-Heckert-Straße wurde die Verkehrsführung wieder aufgenommen und zur Köpenicker Straße geführt. Die Idee wurde von der Berliner Senatsverwaltung postwendend brüsk zurückgewiesen. Trotz aller innenpolitischen Meinungsverschiedenheiten auf Landesebene war man sich in einer Sache einig: Durch die Mauer unterbrochene Straßen sollten keinesfalls bebaut werden, um so für den Tag X – die Wiedervereinigung Berlins und den Fall der Mauer – vorbereitet zu sein.

26. März 1987: Beginn der Räumung eines Teils des Geländes des Kinderbauernhofs.


Der Baubeginn der Kita an der Adalbertstraße im Sommer 1986 verzögerte sich. Bis zum Frühjahr 1987 zogen sich die Querelen. Dann, am 26. März 1987, wurde das geplante Baugelände von einer Hundertschaft der Polizei gewaltsam geräumt. Diese Aktion, die von manchen Befürwortern analog der Behutsamen Stadterneuerung als behutsamer Polizeieinsatz verharmlost wurde, führte zu einem tiefen Riss quer durch die Kreuzberger und Berliner Alternative Liste: Während sich die AL-Fraktion in der Kreuzberger BVV hinter den von ihr getragenen parteilosen Baustadtrat Werner Orlowsky stellte und den Polizeieinsatz rechtfertigte, forderten die Kreuzberger AL-Basis und der Berliner Geschäftsführende Ausschuß der Partei einen sofortigen unbefristeten Baustopp.

Bei Befürwortern der Räumung am 26. März 1987 machte das Wort vom Behutsamen Polizeieinsatz die Runde.

Das Gelände wurde eingezäunt und unter Polizeischutz gestellt. Das Wort vom Klein Wackersdorf machte die Runde. Der als alternative Ikone geltende Baustadtrat Orlowsky wagte sich angeblich nur noch mit einem Leibwächter in die Öffentlichkeit. In der Folge kam es mehrfach zu neuerlichen Auseinandersetzungen zwischen Sympathisanten des Kinderbauernhofs und der Polizei. Manche sehen sogar die Eskalation der Gewalt am 1. Mai 1987 als ein Resultat des Frusts, der sich rund um das Kita-Projekt aufgestaut hatte.

Es änderte nichts. Die Bauarbeiten wurden aufgenommen, die Eröffnung der Kita im Januar 1988 war in Sicht. Da wurde das fast fertiggestellte Holzgebäude vor Morgengrauen am 3. Dezember 1987 durch ein Feuer vollständig zerstört. Ursache: Brandstiftung. Schnell waren natürlich die Kinderbauern als Tatverdächtige ausgemacht. Zumindest hätte man im Kiez nach dem Brand keine traurigen Gesichter gesehen, zitierte die Stadtillustrierte zitty den damaligen Jugendstadtrat Günter König (SPD). Wie sich später herausstellte, steckte aber ein pyromanisch veranlagter Einzeltäter hinter dem Brandanschlag.

3. Dezember 1987: Kurz vor Fertigstellung geht der Kitanebau in Flammen auf.

Wie sollte es nun weitergehen? In der Kreuzberger Alternativen Liste wurde die schon zwei Jahre alte Idee, die Kita einfach auf das tote Ende Adalbertstraße zu bauen, wieder aufgegriffen. Um dem Vorschlag auch eine optische Untermalung zu geben, wurde für den 9. April 1988 zu einem Pressetermin vor Ort geladen. Hier baut die AL: aus der Adalbertstraße wird ne Wiese stand auf einem handgefertigten Bauschild. Davor traktieren drei ALer den Asphalt mit Presslufthämmern und Schippe.

Sie trotzten dem störrischen Straßenbelag mühsam ein Loch von etwa 30 Zentimeter Tiefe und einem halben Meter Durchmesser ab. Gerade genug, um den Wurzeln eines kleinen Bäumchens Platz zu bieten. Festgehalten wird das Geschehen von einer Handvoll Pressefotografen – dazu gehöre auch ich. Sogar ein Fernsehteam ist mit von der Partie.

9. April 1988: Mit Presslufthämmern und Schippe macht sich die Kreuzberger AL für die Verlegung des Kita-Bauplatzes auf der Adalbertstraße stark.

Als ich eigentlich fertig bin mit meinen Fotos, fällt mein Blick nach links, Richtung Kinderbauernhof. Dort steht, angelehnt an den Zaun des abgebrannten Kitabaus, dieses etwa vier Jahre alte Mädchen. Sie steht nur einfach so da, die Hände in den Taschen, und beobachtet das bunte Treiben der Politiker- und Pressemeute.

Ich sehe das Bild und mache es. Genauer gesagt: Ich mache drei Fotos, wobei ich das Mädchen bei jeder Aufnahme ein wenig mehr heranzoome und mich gleichzeitig mehr Richtung Bauzaun bewege. Das dritte Bild ist es, das ich später als das beste auswähle.

Es ist nie in einer Zeitung erschienen. Aber ab 1990 sind von dem Motiv etwa 22.000 Ansichtskarten unter dem Titel Niemandsland gedruckt worden. 2001 war dann Schluss damit. Die übliche Begründung: Schwarzweiß-Fotos laufen im Meer der bunten Karten nicht so gut. Nach mehreren zarten Versuchen, das Foto bei anderen Verlagen unterzubringen, habe ich es schließlich aufgegeben. Finanziell ist das Postkartengeschäft ohnehin nicht lukrativ. Sieben Pfennig pro Karte habe ich zuletzt bekommen.

Wer das Mädchen war und woher sie kam? Vermutlich gehörte sie zum Kinderbauernhof. Ich habe manches Mal überlegt, mehr herauszufinden, aber es dann doch gelassen. Am Ende findet die inzwischen Endzwanzigerin das Ganze überhaupt nicht gut. Oder sie will gar etwas abhaben von den fürstlichen 1500 D-Mark, die mir die Ansichtskarten eingebracht haben.

Und die Kita? Dieses Bauprojekt ist meines Wissens im Trubel der Wiedervereinigung aufgegeben worden. Heute tobt der Bär an der Adalbertstraße, Ecke Leuschnerdamm. Von wegen: Aus der Adalbertstraße wird 'ne Wiese.

4. September 2012: Die Mauer ist weg. Die Adalbertstraße ist inzwischen wieder eine wichtige innerstädtische Verbindung.


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Lausitzer Platz, Berlin-Kreuzberg, 1. Mai 1987

Ein Umsturz der besonderen Art
25. Jahrestag der Krawalle in Berlin-Kreuzberg vom 1. Mai 1987. Das unsägliche Ritual der seither alljährlich zelebrierten Straßenschlachten zwischen Autonomen und der Polizei. Die tiefgründigen Analysen zum Thema. Alles schon wieder Schnee von gestern. Hier geht es nur um ein Foto von jenem freundlichen, warmen ersten Maitag vor einem Vierteljahrhundert.

Die Umstände seiner Entstehung sind schnell geklärt: Beim traditionellen Straßenfest auf dem Kreuzberger Lausitzer Platz hatten bis heute Unbekannte einen Streifenwagen umgeworfen. Ich kam hinzu, als der Wagen unter dem aufmunternden Gejohle der Umstehenden von einem halben Dutzend Polizisten in Kampfanzügen recht unsanft wieder auf seine vier Räder befördert wurde. Das Kippen des VW-Busses ist später als Beginn der inzwischen legendären „Kreuzberger Maikrawalle“ eingeordnet worden.


Ich versuchte zu dieser Zeit – nach Publizistikstudium und Dutzenden von gescheiterten Bewerbungen um ein Volontariat – Fuß im freien Journalismus zu fassen. Das Spandauer Volksblatt (SpaVo) als eine der kleinsten West-Berliner Tageszeitungen war damals dabei, sich als Volksblatt Berlin stärker in der Gesamt-Halbstadt zu etablieren. Dazu gehörte auch die Ausweitung der Lokalberichterstattung aus den Stadtbezirken jenseits von Spandau. Ich fungierte als Kreuzberg-„Korrespondent“. Für 45 Pfennige die Zeile und 30 Mark fürs erste, 20 Mark für weitere Fotos zu einem Beitrag. Und – wie eine Handvoll anderer beim SpaVo – genährt von der Hoffnung, doch noch irgendwann ein Volontariat zu ergattern. Auf dem „Lauseplatz“-Fest war ich an jenem 1. Mai ohne Auftrag unterwegs, sozusagen privat, als Kreuzberger in meinem Kiez. Die Kamera hatte ich natürlich trotzdem dabei. Als ich die Szene mit den starken Männern im Kasten hatte, war klar, dass die Fotos ganz witzig sein müssten. Aber wem sollte ich sie anbieten? Das Volksblatt erschien erst am übernächsten Tag wieder. Außerdem lag das Thema etwas abseits der Redaktionslinie. Doch da war noch die tageszeitung (taz). Der lieferte ich zu dieser Zeit gelegentlich Fotos, die sich im Volksblatt nicht unterbringen ließen. Allerdings unter meinem Künstlernamen Toni Nemes. Im Volksblatt tauchte ich nur unter meinem bürgerlichen Namen oder unter Kürzel auf. Und die taz zahlte stolze 45 Mark pro Foto. Es war schon nach 16 Uhr, die Zeit drängte. Ohne vorher anzurufen fuhr ich kurzentschlossen zur taz-Redaktion, die damals noch in der Weddinger Wattstraße residierte. Ich konnte die Lokalchefin von meinen Fotos überzeugen – allein mit Worten. Denn fertige Bilder gab es ja noch nicht. Der Film wurde im taz-eigenen Fotolabor entwickelt und eine Aufnahme abgezogen. Diese ist dann in der regulären Berlin-Ausgabe vom 2. Mai erschienen – als einziges Bild von den Ereignissen. Angesichts der damals recht frühen Redaktionsschlusszeiten allerdings mit einer entsprechend banalen Bildunterschrift. Da ist nur vom Abbruch des Festes und einem Tränengaseinsatz die Rede, nichts von den abendlichen Auseinandersetzungen, wie sie West-Berlin bis dato nicht gesehen hatte. Doch immerhin. Die anderen Tageszeitungen wie die Berliner Morgenpost und Der Tagesspiegel konnten sich nach dem Doppel-Feiertag erst in der Sonntagsausgabe am 3. Mai dem Thema widmen. Nur die Boulevardblätter machten am Morgen nach den Krawallen ganz groß auf: „Steinhagel, Feuer-Barrikaden: Beim Straßenfest tobten die Chaoten los“ reimte Springers BZ.

Von der taz-Redaktion fuhr ich am frühen Abend wieder zurück nach Kreuzberg. Ich habe dann bis spät in die Nacht weiter fotografiert. Und musste miterleben, wie sich aus einem friedlichen Straßenfest ein beängstigendes „Belfast in Berlin“ (Süddeutsche Zeitung) entwickelte. Gelernt habe ich in dieser Nacht auch meine Lektion in Sachen (Foto-) Berichterstattung und Polizei. Ich hatte schon vorher verschiedentlich Polizeieinsätze mit der Kamera begleitet und bereits eine Ahnung davon, dass sich die Staatsmacht nicht gerne bei ihrer Arbeit auf die Finger schauen, geschweige denn fotografieren lässt. Nun stand ich irgendwann nach Mitternacht einem Polizisten in einem der verwinkelten Ecken am Kottbusser Tor gegenüber: Wir sind für einen Moment allein. Durch den Sucher muss ich beobachten, wie der Mensch im Kampfanzug unvermittelt seinen Schutzschild in Richtung meines Kopfes stößt. Ich kann die Kamera gerade noch rechtzeitig herunterreißen und mich wegducken. Ich mache mich schleunigst davon. Solche Erlebnisse brennen sich ein. In der Folge hat sich mein Foto vom 1. Mai recht gut verkauft: Es ist, zusammen mit einem zweiten Bild, im Spiegel vom 11. Mai erschienen, der ersten erreichbaren Ausgabe nach dem 1. Mai. Für fürstliche 150 Mark pro Foto. Selbst beim Volksblatt Berlin konnte ich es noch unterbringen, wenn auch erst Mitte Juni im Zusammenhang mit einem Beitrag über die zunehmende Eskalation der Polizeimaßnahmen in den zurückliegenden Monaten. Am meisten gefreut hat es mich aber, dass der Berliner Ararat-Verlag das Motiv als Ansichtskarte aufgelegt hat. Nicht des Honorars wegen – zunächst 5, später 7 Pfennig pro gedruckter Postkarte. Sondern wegen der schönen Vorstellung, dass es da Tausende Menschen gibt, die sich aus einem unübersehbaren Meer von Ansichtskarten genau „meine“ herauspicken. Bis 1991 sind in fünf Auflagen 6.000 Exemplare gedruckt worden. Die Karte hat sich – das weiß ich aus erster Hand – auch in so manchem Polizeispind oder in der ein- oder anderen Wachstube wiedergefunden. Auch anderswo gab es Liebhaber. So tauchten vereinzelt – leider schlecht gemachte – Raubkopien an fliegenden Buchständen auf.

Und weiter? Für ein Volontariat beim Volksblatt hat es nie gereicht. Die Zeitung hat die Wende ohnehin nur als Werbeblättchen überlebt und heißt jetzt wieder Spandauer Volksblatt. Back to the roots. Die Ansichtskarten gibt es auch schon lange nicht mehr. Nicht nur das Motiv selbst gilt als abseitig: „Schwarzweiß läuft nicht“, heißt es in den Verlagen. Wohl nichts geändert hat sich an den bescheidenen Honoraren vieler Zeitungen. Aber ich will nicht meckern. Immerhin finden manche Fotos auch nach einem Vierteljahrhundert noch Interesse. Texte haben da ja meistens eine geringere Halbwertszeit. Doch nun heißt es: Warten auf den 1. Mai 2037.


Zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift M - Menschen machen Medien der Gewerkschaft ver.di,
Ausgabe 4/2012

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